Liebe Freunde der Chormusik,
die Arbeit der Europa Chor Akademie ist wie das öffentliche musikalische Konzertleben insgesamt zur Unterbrechung gezwungen. Konzerte müssen verschoben werden und wir warten geduldig, aber hoffnungsvoll darauf, dass wir mit unseren Konzerten das an Sie weitergeben können, was uns bewegt. Wir wollen den Anspruch und den Zuspruch, der in den bedeutendsten Kompositionen für Chor mit und ohne Orchester enthalten ist, wieder in ausdrucksvollen Aufführungen vermitteln. Chormusik ist mehr als reine Musik; in ihr setzen sich Komponisten mit den vertonten Texten auseinander. Gerade in der gegenwärtigen Zeit der Corona-Krise spüren wir, dass bedeutende Kompositionen aus persönlichen Krisen entstanden sind. Wir werden, wenn wir die für 2020 geplanten Werke aufführen können, in diesem Bewusstsein musizieren.
Vor etwa 300 Jahren, 1727 hat Johann Sebastian Bach seine Matthäuspassion am Karfreitag in der Leipziger Thomaskirche erstmals aufgeführt. Dort erleben wir, wie Jesus am Kreuz kurz vor seinem Tod Gott anschreit: „Eli, Eli, lama asabthani?“ („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“). Als er gestorben war, erklingt der tröstliche Choral:
„Wenn ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden,
so tritt du denn herfür,
wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein.“
Dieser Text in Verbindung mit der eindringlichen Musik unterstreicht das Dennoch des Glaubens – oft wider alle Vernunft.
Etwa zur gleichen Zeit wie die Matthäuspassion schrieb Bach seine Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied.“ In deren zweiten Satz wird eine freie Dichtung mit einer Choralstrophe verbunden. Wie ein Faden zieht sich siebenmal die Bitte „Gott nimm dich ferner unser an“ durch diesen Satz. Der Choral vergleicht den Menschen mit Staub, einer verwelkenden Blume und fallendem Laub und endet mit den Worten: „Also der Mensch vergehet, sein End, das ist ihm nah.“ Der erste Chor antwortet dem zweiten mit den Versen: „Wohl dem, der sich nur steif und fest auf dich und deine Huld verlässt.“
Etwa 100 Jahre später komponierte Beethoven seine Missa Solemnis. Wie die beiden vorher erwähnten Werke Johann Sebastian Bachs beabsichtigen wir auch die Missa solemnis noch in diesem Jahr aufzuführen. Als sie Beethoven 1823 seinem Freund und Schüler Erzherzog Rudolf von Österreich, der inzwischen als Kardinal und Erzbischof von Olmütz inthronisiert worden ist, überreichte, war der Komponist bereits von Taubheit geplagt. Deswegen oft bis zur Ungeduld und zum Jähzorn getrieben, war er im Herzen doch gütig und menschlich, sowohl Gott als auch den Menschen zugewandt. Über die Partitur schrieb er: „Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen.“
In Haydns „Schöpfung“ – etwa 30 Jahre vor Beethovens Missa Solemnis komponiert – erleben wir die Erleuchtung der Menschen durch den Ordnung stiftenden Gott. Auf die „Vorstellung des Chaos“, die in Haydns Musik formlos und harmonisch düster wirkt, folgt auf die Worte „Und Gott sprach: Es werde Licht!“ die plötzliche musikalisch strahlende Antwort: „Und es ward Licht!“ Wie wichtig das Licht, das Licht der Hoffnung ist, spüren wir besonders, wenn wir wie in der gegenwärtigen Epidemie das Ende eines düsteren Tunnels nicht sehen.
Gabriele Fauré beendete sein Requiem von 1887, im Todesjahr seines Vaters, mit dem Satz „In Paradisum“ – „Ins Paradies mögen die Engel dich geleiten“. Man hat den Eindruck, dass diese ruhige, meditative Musik in Verbindung mit den Worten bei dem Komponisten wie auch bei Sängerinnen und Sängern und bei den Hörern die Angst vor Leiden und Tod auffängt und der Hoffnung Raum gibt.
Die genannten Kompositionen, kunstvolle und komplexe Vertonungen geistlicher Texte sind Werke, die in Zusammenhang mit Grenzerfahrungen stehen. Sie haben eine existenzielle Bedeutung, die uns alle angeht und Christen wie Nichtchristen zum Nachdenken anregt. Das werden wir nach dem Ende der Pandemie nicht vergessen, sondern die Werke umso eindringlicher interpretieren.
Wir werden weiterhin unsere ganze Kraft, Fantasie und Sorgfalt für Interpretationen auf höchstem Niveau einsetzen und freuen uns auf den Tag, an dem wir Sie wieder zu unseren Konzerten einladen können.
Wir wünschen Ihnen österliche Freude auch über die Feiertage hinaus und Gesundheit für Sie selbst, Ihre Angehörigen und Freunde und grüßen Sie
sehr herzlich
Prof. Joshard Daus (Intendant)
Prof. Dr. Jürgen Blume (Wissenschaftliche Leitung)
Prof. Hubert Schulte-Kemper (Geschäftsführer)